Was dich aufregt, gehört vielleicht zu dir: Trigger als Wegweiser zur inneren Freiheit

von Ragnhild Struss
Ärger. Rückzug. Scham. Trotz. Vielleicht sogar Neid. Jemand äußert eine kleine Bemerkung, eigentlich nicht weltbewegend – und doch geht innerlich sofort eine Alarmsirene an. Vielleicht bemerkst du gar nicht bewusst, was genau dich gerade so sehr berührt hat, aber plötzlich bist du gereizt, schnippisch oder ziehst dich beleidigt zurück. Es fühlt sich an, als ob ein automatisches Programm gestartet wird, auf das du kaum Einfluss hast. Willkommen in der komplexen Welt der Trigger.
Früher war der Begriff „Trigger“ in Fachkreisen der Psychologie und Traumaforschung klar umrissen und spezifisch eingesetzt. Heute dient er auf Social Media oftmals als universelle Erklärung für jedes unangenehme Gefühl. Aber auch wenn das Wort inflationär benutzt wird, verweist es auf etwas sehr Reales und für unsere persönliche Entwicklung Entscheidendes: emotionale Reaktionen, die außergewöhnlich stark sind und nicht ganz zur aktuellen Situation passen. Genau hier liegt eine große Chance verborgen. Trigger sind nicht einfach nur Ärgernisse – sie zeigen uns, welche inneren Themen noch nicht geklärt sind und dringend unserer Aufmerksamkeit bedürfen.
Trigger: Wenn das Außen das Unverdaute im Innen berührt
Ein normaler Reiz erzeugt eine angemessene, situationsgerechte Reaktion: Jemand fragt freundlich nach, und du gibst eine klare Antwort. Ein Trigger hingegen aktiviert ein tiefes emotionales Muster oder eine innere Verletzung, die bislang nicht ausreichend verarbeitet wurde. Ein Kollege sagt etwa beiläufig, dass ein bestimmter Bericht nicht ganz seinen Erwartungen entspricht – eine alltägliche Situation. Doch für dich fühlt sich dieser Satz an wie ein vernichtendes Urteil. Plötzlich bricht dein Selbstwertgefühl ein, und du fühlst dich zurückversetzt in eine frühe Situation, in der du das schmerzhafte Gefühl hattest, „nicht genug“ zu sein. Deine heftige Reaktion hat wenig mit dem Kollegen zu tun, sondern viel mehr mit unverarbeiteten emotionalen Beziehungserfahrungen aus deiner Vergangenheit.
Die Reiz-Reaktions-Falle: Wer agiert hier eigentlich?
In einem getriggerten Zustand handeln wir meist reflexhaft, überproportional, irrational. Es fühlt sich an, als ob ein unbekannter Teil in uns kurz die Kontrolle übernimmt. C.G. Jung sprach von solchen Anteilen als „Schatten“ – unintegrierte Persönlichkeitsanteile, die unbewusst bleiben, aber nach Aufmerksamkeit verlangen. Dabei handelt es sich häufig um emotional aufgeladene Beziehungserfahrungen, die wir verdrängt oder nie richtig verarbeitet haben.
Lohnenswert: Ein Blick in die Kindheit
Unsere Trigger wurzeln meist tief in frühen Beziehungserfahrungen. So leitete ein Kind, das von seinen Eltern oft kritisiert wurde vielleicht daraus ab, „nicht genug“ zu sein. Als Erwachsener kann es passieren, dass die harmlose Kritik eines Kollegen genau diesen alten Schmerzpunkt berührt. Die emotionale Reaktion richtet sich weniger gegen die aktuelle Person, sondern aktiviert vielmehr das alte, unverdaute Gefühl aus der Beziehung zu den Eltern.
Oder ein Kind, das stets die Rolle des tapferen, pflichtbewussten Kindes übernahm, verdrängte möglicherweise seine eigenen Bedürfnisse nach Nähe und Unterstützung, aus Angst, in der Beziehung ansonsten nicht mehr genug Anerkennung zu erhalten. Als Erwachsener könnte dieses verdrängte Bedürfnis in Beziehungen auftauchen, sobald der Partner etwas distanzierter wirkt. Die Reaktion – Panik, Frust oder übermäßige Anhänglichkeit – ist ein Hinweis auf die unverarbeitete emotionale Vergangenheit.
Von Projektion zu Integration: Die vier Dimensionen innerer Trigger
Warum lohnt es sich, diese Trigger zu entschlüsseln? Weil sie wie kleine Tretminen, solange unbewusst, immer wieder unerwartet für Explosionen sorgen. Sie werden sich so lange Bahn brechen, bis wir sie bewusst anschauen, “entschärfen” und integrieren.
Ablehnung: Ich bin so – aber ich will so nicht sein
Eine Führungskraft, die ins Coaching wechselt, bringt möglicherweise einen starken Gestaltungswillen mit – lehnt diesen aber ab, weil sie nun empathisch und „raumgebend“ sein möchte. Trifft sie auf eine Kollegin, die klar und bestimmt durch ihre Coachings führt, reagiert sie mit Irritation oder Abwertung. Die Lösung liegt darin, diesen eigenen Anteil der Dominanz anzuerkennen und in konstruktiven Bahnen bewusst einzusetzen, statt ihn zu verleugnen. Indem sie sich beispielsweise erlaubt, in Coachings gezielt Struktur zu geben und klare Impulse zu setzen, integriert sie diesen Anteil schrittweise und verringert dadurch ihre Abwehr gegen ähnliche Qualitäten bei anderen. So verliert der Trigger nach und nach seine emotionale Sprengkraft.
Sehnsucht: Ich wäre gern so – aber ich glaube, ich darf oder kann es nicht
Eine stark introvertierte Expertin bewundert insgeheim den extrovertierten Kollegen, der seine Meinung souverän vertritt. Doch anstatt sich inspirieren zu lassen, wertet sie ihn ab: „Der produziert nur heiße Luft.“ Hinter dieser Abwertung steht nicht Arroganz, sondern der Wunsch, selbst mutiger zu sein. Sich dessen bewusst zu werden und kleine Schritte in Richtung Sichtbarkeit zu gehen, ist der Weg aus der Blockade. Indem sie sich beispielsweise sehr gut schriftlich vorbereitet und dann in kleinen Meetings bewusst erlaubt, ihre Meinung offen zu äußern oder bewusst Sichtbarkeit zu üben, erlebt sie, dass ihr Mut willkommen ist. Dadurch löst sich der Trigger auf und verwandelt sich in Anerkennung für sich und andere.
Verlust: Ich war mal so – aber ich durfte nicht so bleiben
Eine strukturierte Projektleiterin reagiert gereizt auf den kreativen, unkonventionellen Kollegen. Einst war sie selbst verspielt und fantasievoll, doch diese Eigenschaften wurden ihr in der Kindheit als ineffizient ausgetrieben. Statt weiter dagegen anzukämpfen, könnte sie bewusst kreative Momente im Arbeitsalltag zulassen und so ihren verlorenen Anteil reintegrieren. Beispielsweise könnte sie gezielt kreative Brainstormings in Meetings initiieren oder sich täglich eine kurze kreative Pause gönnen, in der sie neue Ideen spielerisch skizziert oder visualisiert, statt sie sofort rational zu bewerten. So lernt sie Schritt für Schritt, dass Kreativität und Struktur sich nicht ausschließen müssen, und die gereizte Reaktion verliert ihre Kraft.
Verbotene Bedürfnisse: Ich verurteile im Außen, was ich selbst nie durfte
Ein Mensch, dessen Eltern Selbstfürsorge und Pausen als Schwäche abwerteten, verurteilt andere schnell als faul oder schwach. Hier liegt die Lösung darin, den eigenen Bedürfnissen nach Ruhe und Auszeit nachzugehen und Selbstfürsorge bewusst zu praktizieren. Konkret könnte er beispielsweise regelmäßige bewusste Pausen im Arbeitsalltag einplanen und aktiv kommunizieren („Ich nehme mir heute bewusst eine halbe Stunde Pause, um aufzutanken“). Ebenso könnte er lernen, klare Grenzen zu setzen und auch mal freundlich Nein zu sagen, um zu erfahren, dass Ruhepausen nicht nur akzeptabel, sondern sogar stärkend sind. Durch diese bewusste Praxis verringert sich seine innere Abwertung gegenüber anderen, da er erlebt, dass Selbstfürsorge Ausdruck von Stärke ist.
Heilung durch Bewusstheit: Trigger als Entwicklungschance
Die zentrale Frage lautet also nicht: „Wie werde ich weniger empfindlich?“, sondern: „Was will mir meine Empfindlichkeit zeigen?“ Der Versuch, heftige Reaktionen einfach wegzudrücken, funktioniert langfristig nicht – die verdrängte Energie sucht sich immer wieder Ausdruck, etwa in körperlichen Beschwerden, Schlaflosigkeit oder Konflikten. Ein Beispiel: Du versuchst, deine Wut in der Arbeit zu unterdrücken, doch abends bricht sie zu Hause völlig unvermittelt über deinen Partner herein.
Um deine Trigger bewusst zu identifizieren, stell dir folgende präzise Fragen:
- Welche Situationen lösen unverhältnismäßig starke Gefühle in mir aus?
- Was konkret ärgert mich an bestimmten Menschen besonders?
- Welche Eigenschaft bei anderen verurteile ich – und warum?
- Wofür bewundere ich andere heimlich?
- Welche eigenen Bedürfnisse habe ich lange ignoriert oder verdrängt?
Gehe mit den Antworten achtsam um. Schreib sie auf, reflektiere darüber und frage dich:
- Wann und wo habe ich gelernt, dass dieser Anteil nicht willkommen ist?
- Welche Erfahrungen stecken hinter diesem Trigger?
- Was braucht dieser Anteil, um integriert werden zu können?
Was dich triggert, zeigt dir, wo du wachsen darfst Wer beginnt, den Trigger nicht mehr als Angriff, sondern als wertvollen Spiegel zu betrachten, öffnet den Raum für eine tiefe persönliche Entwicklung. Trigger sind Einladungen zur Selbstbegegnung, zur Integration deiner Persönlichkeit – und zur inneren Freiheit. Denn echte Freiheit bedeutet, bewusst statt automatisch zu reagieren. Der nächste Ärger ist dann vielleicht kein Störfaktor mehr – sondern ein wertvoller Hinweis darauf, wo du in deinem Leben noch wachsen darfst.
01.05.2025