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Kognitive Verzerrungen: Wie wir uns selbst und andere unbewusst betrügen

Kognitive Verzerrungen: Wie wir uns selbst und andere unbewusst betrügen

Kennen Sie den Halo-Effekt? Oder das Impostor-Syndrom? Selbst, wenn Ihnen die Begriffe nichts sagen: Vermutlich haben Sie schon oft Erfahrungen mit diesen sogenannten „Kognitiven Verzerrungen“ gemacht. Ragnhild Struss erläutert, wie solche Denkfehler entstehen, welchem Zweck sie dienen und wie wir lernen können, nicht ständig in ihre Falle zu tappen.

Als neuer Mitarbeiter aus Unsicherheit über den Dresscode eher zu schick als zu leger erscheinen und dann plötzlich das Gefühl haben, die neuen Kolleg*innen würden sich über das übertriebene Outfit lustig machen? Als Personalerin auf Grundlage von Foto, CV und Motivationsschreiben bereits ein positives Bild der Bewerberin haben und ihr Verhalten im Vorstellungsgespräch dann so filtern, dass der erste Eindruck bestätigt wird? Sie vielleicht sogar für intelligenter und kompetenter halten als sie ist? Beides sind klassische Fälle von Fehlinterpretation: Unsere Wahrnehmung passt sich unbewusst der eigenen inneren Überzeugung an. Denkfehler dieser Art – kognitive Verzerrungen, auch „Unconscious Biases“ genannt – beeinflussen unsere Entscheidungen und Handlungen unbemerkt. Soziale und gesellschaftliche Konsequenzen sind weitreichend. 

Was sind kognitive Verzerrungen?

Uns allen unterlaufen im Alltag Denkfehler – unbewusst und ständig. Obwohl wir meinen, wir würden rational handeln und entscheiden, tun wir es häufig nicht. Doch Irren ist menschlich: Schuld sind Verzerrungen der Wahrnehmung, die den Blick auf uns und unsere Umwelt trüben. Wenn das passiert, übernehmen unbewusste Überzeugungen, Vorannahmen und Vorurteile im Gehirn das Ruder. Wie kommt es dazu?

Jeden Tag sind wir mit einer Flut von Informationen konfrontiert, die unser Gehirn wahrnehmen, verarbeiten und abspeichern muss. Täglich treffen wir bis zu 20.000 Entscheidungen. Weil das menschliche Gehirn jedoch nicht mehr als sieben Informationseinheiten bewusst wahrnehmen und steuern kann, wird alles darüber hinaus ausgeblendet und im Entscheidungsprozess – vor allem wenn's mal schnell gehen muss – ans Unbewusste abgegeben. Das ist gut, denn sonst würden wir den ganzen Tag mit Nachdenken und Grübeln zubringen und wären nicht in der Lage, zu schnellen Lösungen zu kommen. Werden Denkprozesse hingegen beschleunigt, können wir dadurch handlungsfähig bleiben. Evolutionär betrachtet ist das logisch: Hätten unsere Vorfahren bei dem Geräusch sich nähernder Fußstapfen lange und ausgiebig nach einer rationalen Erklärung für die Herkunft des Geräusches gesucht, um dann eine wohlüberlegte Entscheidung zu treffen, wären sie vermutlich gefressen worden.

Das Gehirn nimmt also aus Gründen der Effizienz eine Abkürzung. Solche kognitiven Abkürzungen basieren auf Erfahrungen und Faustregeln (sogenannten Heuristiken): Weil wir ein Leben lang die Erfahrung gemacht haben, dass der Deckel einer Flasche linksherum aufgedreht wird, machen wir es automatisch so, wenn wir eine neue Flasche öffnen. 
Übernimmt aber bei komplexeren Sachverhalten oder der Interaktionen mit Menschen unser Autopilot das Schlussfolgern, besteht die Gefahr, dass wir nur noch einen Ausschnitt der Realität wahrnehmen und wichtige Informationen übersehen oder ausblenden. Es entsteht eine kognitive Verzerrung unserer Wahrnehmung, die unsere Entscheidungen und Handlungen unbewusst negativ beeinflussen kann.  

Wie kognitive Verzerrungen uns schaden

Das Problem an kognitiven Verzerrungen ist, dass uns ihr negativer Einfluss in etlichen Bereichen unseres alltäglichen Lebens nicht bewusst ist. Sie führen zu Verallgemeinerungen, Überwertungen einzelner Fakten, dem Ausblenden des Kontextes oder der Gesamtsituation, verleiten zu irrationalem Verhalten und bedingen Fehlentscheidungen. Zum Beispiel in Bezug auf unser Kaufverhalten: Wenn wir im Internet nach Handytarifen suchen, wird uns höchstwahrscheinlich der teuerste Tarif als erstes angezeigt. Dieser hat sich nun als Referenzpunkt im Kopf verankert, die folgenden Tarife erscheinen uns dementsprechend günstiger und wir sind gerne bereit, einen der vermeintlich preiswerteren Tarife zu kaufen. Die kognitive Verzerrung, – hier die sogenannte Anker-Heuristik – führt dann zu einem Fehlkauf, wenn wir z. B. aus Zeitmangel keine weiteren Referenzpunkte in die Überlegung einbeziehen, wie alternative Angebote anderer Anbieter, da uns der erste schnelle Vergleich suggeriert, wir hätten bereits das beste Angebot gefunden.

Vermutlich kennt jeder die Situation, in einer Diskussion mit einem Freund felsenfest von seiner eigenen Meinung überzeugt zu sein. Alle Informationen, die nicht zur eigenen Einstellung passen, werden ausgeblendet oder als wenig relevant eingestuft. Dafür gewichten wir die Fakten, die unsere eigene Weltanschauung bestätigen, umso höher. Im Kleinen führt dieser Bestätigungsfehler dazu, dass man mit seinem Freund auf keinen grünen Zweig kommt, dass man aneinander vorbeiredet, weil jeder nur seine eigene, subjektive Wahrnehmung im Blick hat. Im Großen kann er aber dazu führen, dass sich die Fronten zwischen politischen Lagern verhärten und sich radikale Meinungen nur noch schwer verändern lassen. Kognitive Verzerrungen wirken sich insofern nicht nur auf das eigene Leben aus, sondern haben auch Einfluss auf das Wohlergehen anderer und die Gesellschaft, in der wir leben. 

Kognitive Verzerrungen schaden uns auch dann, wenn wir eine verzerrte Wahrnehmung unserer selbst haben. Wer beispielsweise stark perfektionistisch ist und den inneren Glaubenssatz hat, in professionellem Kontext nie Fehler machen zu dürfen, wird innerlich auch kleine Fehler oder Irrtümer im Job zu Katastrophen aufbauschen, wohingegen Erfolgserlebnisse nicht gesehen oder sogar heruntergespielt werden. Das wiederum kann sich negativ auf das Verhalten und die Karriere auswirken, weil das Zutrauen für die Übernahme von Führungsverantwortung fehlt oder die Hemmschwelle, eine Gehaltserhöhung zu fordern, so hoch liegt, dass bereits auf den Versuch verzichtet wird. Andererseits können kognitive Verzerrungen aber auch zu Selbstüberschätzung führen: In komplexen Situationen, in denen es kognitiv besonders schwierig bzw. anstrengend ist, ein Urteil zu fällen, neigen wir zur Überschätzung der eigenen Kompetenz. Bestes Beispiel: die meisten Autofahrer*innen behaupten von sich, besser Auto zu fahren als ihre Mitmenschen. Was auf den ersten Blick wie Überheblichkeit erscheint, ergibt evolutionär durchaus Sinn: Wer viel von sich hält, sorgt besser für sich, was die Chance aufs Überleben erhöht. Die eigene Fehleinschätzung kann aber auch schwerere Konsequenzen haben. Etwa dann, wenn man trotz gegenläufiger Statistiken an der Idee festhält, ohne Businessplan, finanzielle Sicherheit und Gastronomiekenntnisse sein eigenes Café zu eröffnen – und dann nach zwei Jahren schließen muss. 

Im Zwischenmenschlichen verstärken kognitive Verzerrungen Verallgemeinerungen, Vorurteile und Schwarz-Weiß-Denken. Wer beispielsweise der Ansicht ist: „Alle Reichen sind arrogant, unmoralisch und rücksichtslos“, dem werden wohlhabende Menschen immer genau dann auffallen, wenn sie sich dementsprechend verhalten. All die vielen Erfahrungen, die das Vorurteil widerlegen würden, werden genauso wie Graubereiche oder Zwischentöne nicht wahrgenommen.

Völlig vorurteilsfrei werden wir uns nie durch den Alltag bewegen, doch wir können lernen, unsere Wahrnehmung zu schulen und so dazu beitragen, seltener auf kognitive Verzerrungen hereinzufallen. Dafür ist es hilfreich, sie aus dem Unbewussten ins Bewusste zu holen und das eigene Verhalten vor dem Hintergrund der häufigsten Denkfehler zu reflektieren.

Sie sind überall: Typische Fallen und häufige Denkfehler

Eine der bekanntesten kognitiven Verzerrungen ist der sogenannte Bestätigungsfehler (confirmation bias), oft als Vater der kognitiven Verzerrungen benannt. Viel zu gerne möchten Menschen in ihrer Überzeugung von anderen bestätigt werden. Deshalb werden neue Informationen so interpretiert, dass sie mit unseren inneren Überzeugungen übereinstimmen. Abweichende Aussagen werden weniger stark gewichtet oder gänzlich ignoriert. So wird beispielsweise jemand, der unter starker Flugangst leidet, vor Abflug vermehrt Hinweise an Flugzeug und Crew wahrnehmen, die auf einen bevorstehenden Absturz deuten könnten oder an alle katastrophalen Abstürze erinnern, von denen er je gehört hat. 

Auch die Übertragung von Vorurteilen gegenüber dem gesamten Charakter eines bestimmten Menschen auf Grund eines einzigen Merkmals (z. B. Alter, finanzieller Lage, Geschlecht, Hautfarbe, Sexualität etc.) zählt zur Kategorie des confirmation bias. 

Jene Vorurteile stellen sehr gängige kognitiven Verzerrungen dar. Genauer hinzuschauen gilt es in Situationen, die nicht nur unser, sondern auch das Leben anderer erschweren. Frauen erleben den sogenannten gender bias, wenn ihnen aufgrund ihres Geschlechtes bestimmte – vermeintlich männlich konnotierte – Positionen im Berufsleben nicht zugetraut werden. Studien haben herausgefunden, dass Menschen mehr Angst empfinden, wenn eine Pilotin am Steuer sitzt als wenn es ein männlicher Kollege tut. Schwarze Menschen oder Menschen mit Migrationshintergrund haben es aufgrund des racial bias beispielsweise schwerer, einen Mietvertrag zu bekommen. Und ältere Menschen haben unter dem age bias zu leiden, wenn ihnen trotz gleicher oder besserer Qualifikation gegenüber jüngeren Kolleg*innen eine Beförderung verwehrt bleibt. 

Ebenfalls berühmt ist der sogenannte Heiligenschein-Effekt (Halo-Effekt): Springt einem bei einem Menschen eine positive Eigenschaft besonders ins Auge, überstrahlt diese Eigenschaft alle weiteren Attribute der Person, von denen man dann schlussfolgert, dass sie auch positiv sein müssten. Wer einem attraktiven Menschen begegnet, sollte also nicht davon ausgehen, dass er oder sie deswegen gleich besonders intelligent oder einfühlsam ist. Doch genau dieses Fazit wird aufgrund des Halo-Effekts häufig gezogen, – obwohl zwischen Aussehen und Intelligenz oder Empathiefähigkeit tatsächlich gar kein Zusammenhang besteht. 

Eng damit verknüpft ist der Interviewer-Bias, der Verfälschungen und Verzerrungen in Interviewsituationen thematisiert. Sie entstehen durch die Art und Weise, wie die interviewende Person Fragen stellt. So lassen sich erwünschte Antworten beispielsweise durch Suggestivfragen forcieren.

Wer dem authority bias unterliegt, ist Autoritäten und vermeintlichen Expert*innen gegenüber hörig. Drastisch anschaulich wurde der authority bias in dem Experiment des US-Psychologen Stanley Milgram von 1961, bei dem Menschen dazu angehalten wurden, den Anweisungen des Versuchsleiters zu folgen und anderen Menschen zunehmend stärkere Stromstöße zu versetzen. Obwohl die gefolterten Menschen vor Schmerzen schrien, führten die Versuchspersonen die Stromschläge fort, weil der Versuchsleiter sie dazu anwies. Die meisten wagten es nicht, ihr eigenes moralisches Empfinden dem des in der Hierarchie höherstehenden Versuchsleiters entgegenzusetzen. Dass die vermeintlich gefolterten Menschen Schauspieler waren und die Stromschläge nicht echt, wussten die Versuchspersonen nicht. 

Der Barnum-Effekt bewirkt, dass allgemeingültige oder vage Aussagen so interpretiert werden, dass sie auf die eigene Persönlichkeit zutreffen. Oft sind diese Beschreibungen positiv konnotiert, sodass die Zuschreibung gerne vorgenommen wird. Wer fühlt sich nicht heimlich geschmeichelt, wenn einem das Horoskop eine besonders positive Ausstrahlung zuspricht, die andere Menschen auf Anhieb verzaubert? 

Nicht nur gegenüber Autoritäten, sondern auch in Gruppen treten kognitive Verzerrungen auf. Das Phänomen des Ingroup-Bias wirkt bereits in der Schule und meint eine Bevorzugung von Mitgliedern einer Gruppe gegenüber Außenseitern. Dabei finden wir Mitglieder einer Gruppe, der wir selbst angehören, automatisch sympathischer. Diese kognitive Verzerrung ist nicht nur im Hinblick auf gruppendynamische Prozesse im Arbeitsumfeld, sondern auch auf politische Auseinandersetzungen interessant: Wie entstehen Gruppenkonflikte und wie laufen sie ab?

Viele Gründer unterliegen dem sogenannten sunk cost fallacy (zu deutsch etwa: „verlorene-Kosten-Irrtum“). Es geht um die Überzeugung, ein Projekt nicht abbrechen zu dürfen, in das bereits viel Zeit und Geld geflossen sind, auch wenn es rational betrachtet sinnlos ist, es fortzuführen. Das bereits Investierte ist der Grund fürs Weitermachen. „Nun habe ich schon so viel Aufwand in meine Ausbildung gesteckt, jetzt darf ich sie nicht mehr abbrechen, obwohl sie mir eigentlich gar nicht gefällt und ich lieber eine völlig andere Richtung einschlagen würde.“ Paradoxerweise ist der Drang nicht aufzugeben stärker, je größer die sunk cost sind. Denn Menschen haben das Bedürfnis, konsistent zu handeln. Getreu dem Motto: „Wer A sagt, muss auch B sagen.“ Dabei hat bereits Bertolt Brecht klargestellt: „Wer A sagt, muss nicht B sagen, er kann auch erkennen, dass A falsch ist.“ Das gilt nicht nur für finanziell bedingte Entscheidungen. Mit dem eskalierenden Commitment bezeichnet man die Tendenz, an einer früher getroffenen Entscheidung festzuhalten und weitere Ressourcen für sie bereitzustellen, weil man sich ihr gegenüber verpflichtet fühlt, obwohl sich diese Entscheidung bisher als ineffektiv oder falsch erwiesen hat.

Eine unter Umständen gefährliche Illusion ist der sogenannte Survivorship-bias, der zur Überschätzung der eigenen Aussicht auf Erfolg führt. Die vermeintliche Logik hinter dieser Illusion ist die Sichtbarkeit von Erfolgreichen gegenüber Erfolglosen. Besonders durch die Berichterstattung in (sozialen) Medien kann man den Eindruck bekommen, es gäbe unendlich viele erfolgreiche, attraktive, berühmte Menschen. Wer hatte nicht schon einmal den Gedanken, ein eigenes Buch zu publizieren? Schließlich begegnen einem im Alltag ständig erfolgreiche Autor*innen auf Spiegel-Bestseller-Listen, hört man von Bekannten, die erst neulich mit ihrer Erstveröffentlichung einen Erfolg feiern konnten. Oder man verfolgt den Traum, als Sänger*in groß durchzustarten und die Bühnen dieser Welt zu erobern? Das Problem hieran: Wir sehen nur diejenigen in den Medien, die wirklich erfolgreich geworden sind. All die Gescheiterten und Erfolglosen bleiben unsichtbar, über sie wird nicht berichtet, weshalb wir ihre Anzahl als deutlich geringer einschätzen. Wir sollten also selbst lieber genau hinschauen, bevor wir dem Trugbild einer glorreichen Zukunft verfallen. 

Fazit

Das schnelle Denken kann uns im Alltag helfen, routiniert und effizient Entscheidungen zu treffen, ohne unnötige geistige Kapazitäten aufzubringen. Es hilft uns, auch unter Stress handlungsfähig zu bleiben, Entscheidungen zu treffen und Lösungen zu finden. Viel zu oft aber rutschen wir dabei in undifferenzierte Denkmuster – Wahrnehmungsverzerrungen – ab, mit denen wir uns selbst und anderen schaden. Ohne es zu merken, beeinflusst unser Denken dabei unser Fühlen und Handeln. Das Gute: Weil Wahrnehmungsprozesse zumeist unbewusst ablaufen, können wir kognitiven Verzerrungen durch ihr Sichtbarmachen einen Strich durch die Rechnung machen. Halten Sie also ruhig einmal inne, wenn es darum geht, schnelle Entscheidungen zu treffen und hinterfragen Sie Ihr Urteil. Das mag der anstrengendere Weg sein, lohnt sich aber auf jeden Fall. Welche konkreten Vorteile es haben kann, sich die eigenen Denkfehler bewusst zu machen und mit welchen Tipps wir lernen können, unseren unbewussten kognitiven Verzerrungen auf die Spur zu kommen, lesen Sie im zweiten Teil des Artikels

 

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