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Abwehrmechanismen: So schützt sich unsere Psyche selbst

Abwehrmechanismen: So schützt sich unsere Psyche selbst

Jeder Mensch nutzt Abwehrmechanismen – psychische Prozesse, die dem Umgang mit unerwünschten Empfindungen dienen, um mentale Balance wiederherzustellen. Ragnhild Struss stellt die wichtigsten Abwehrmechanismen vor und zeigt auf, wie wir das zugrundeliegende Problem auf nachhaltigere Weise lösen können.

Stellen Sie sich folgende Szenarien vor: Sie lassen Ihren Schal im Bus liegen – doch statt sich zu ärgern, denken Sie sich ‚Nicht so schlimm, war ohnehin alt und entsprach nicht mehr ganz meinem Geschmack!‘. Im Job gab es Stress mit Ihrer Chefin – aber statt sie zu konfrontieren, lassen Sie abends Ihren Frust an Ihrem Mitbewohner aus. Als Jugendlicher haben Sie gerne gezündelt – was dazu geführt hat, dass Sie sich heute bei der freiwilligen Feuerwehr engagieren. Diese drei Beispiele entsprechen den psychischen Abwehrmechanismen Rationalisierung, Verschiebung und Sublimierung. Wir alle kennen und nutzen solche und weitere Abwehrmechanismen, um Stress und negative Emotionen zu vermeiden. So nützlich sie für unser mentales Wohlbefinden sind, so schädlich können sie jedoch bei übermäßigem Gebrauch werden – weil sie uns davon abhalten, uns unseren wahren, unbequemen Emotionen zu stellen. Ein Prozess, der für ein authentisches Leben mit entsprechendem Zufriedenheitsgefühl aber unbedingt notwendig ist. Welche Abwehrmechanismen gibt es und wie können wir auf reifere Art mit negativen Gefühlen umgehen?

Was Abwehrmechanismen sind

Genauere Begriffsbetrachtung zu Beginn: Der „Abwehrmechanismus“ ist erstmals im Rahmen der Psychoanalyse von Sigmund Freud geprägt worden und steht für psychische Vorgänge, mit denen wir innerpsychische oder zwischenmenschliche Konflikte regulieren und uns so emotionale Entlastung verschaffen. Meist handelt es sich dabei um einen unbewussten Prozess – unsere Psyche schützt unser Bewusstsein vor zugrundeliegenden schmerzhaften Gefühlen, indem sie uns die Situation „alternativ“ wahrnehmen oder handhaben lässt. Freud betrachtete einige Abwehrmechanismen wie Verleugnung als eher unreif, während andere wie etwa Sublimierung – durch Veredelung auf eine höhere Stufe bringen – eher als reif gelten, also auf eine stabile und gut entwickelte Persönlichkeit hindeuten. 

Fakt ist: Jeder von uns nutzt ab und zu Abwehrmechanismen. Sie sind eine Kompensation für „stressende“ Gefühle wie Ärger, Trauer, Minderwertigkeitskomplexe, Scham und Schuld sowie Empfindungen, die unseren Regeln und Wertvorstellungen widersprechen. Je nach Persönlichkeitstyp nutzen wir bestimmte Abwehrmechanismen wahrscheinlicher als andere: So wird ein Optimist sich manchmal mithilfe von Rationalisierung die Wirklichkeit „schönreden“ (wie im eingangs genannten Beispiel mit dem verlorenen Schal), während jemand, der sehr streng mit sich selbst ist, vielleicht eher zur Verdrängung unerwünschter Impulse neigt. Das Problem: Verstricken wir uns zu sehr in solchen Kompensationsstrategien, wird das Ursprungsproblem nicht gelöst – sondern zuweilen sogar verstärkt. Erst wenn wir dem Gefühl, welches wir vermeiden wollen, auf den Grund gehen, können wir wachsen und Heilung erfahren. Denn häufig verbirgt sich dahinter ein Muster, welches wir schon in der Kindheit entwickelt haben, um mit für uns schmerzhaften Erfahrungen besser umgehen zu können. Abwehrmechanismen bieten jedoch nur oberflächliche, temporäre Linderung. 

Die wichtigsten Abwehrmechanismen – und was Sie stattdessen tun können

Je nach Einordnung existieren um die zwanzig verschiedene Abwehrmechanismen, die sich in vielfältigen, teilweise konträren Verhaltensweisen und auf unterschiedlichen Ebenen äußern. Im Folgenden wird innerhalb einer Vorstelleung der am weitesten verbreiteten Strategien aufgezeigt, wie wir statt zu kompensieren mit dem zugrundeliegenden Problem umgehen können. Sie werden sich in dem ein oder anderen Abwehrmechanismus sicher wiedererkennen.

Rationalisierung

Bei dieser Abwehrstrategie negativer Empfindungen suchen wir (vermeintlich) logische oder moralisch akzeptable Erklärungen für unser Verhalten, unsere Gedanken oder Gefühle. Inbegriffen sind unsere Reaktionen auf äußere Umstände. Beispiel: Ein Kind entwendet einen Buntstift aus der Federtasche seines Klassenkameraden. Auf etwaige Schuldgefühle wegen der moralischen Verwerflichkeit des Stehlens reagiert die Psyche des Kindes rationalisierend: Es könnte sich einreden, dass Buntstifte nicht teuer sind, dass der Klassenkamerad immer noch sehr viele besitzt und dass er ohnehin nicht gerne zeichnet. Ein weiteres Beispiel: Ein Mann wird von seiner Partnerin verlassen. Durch Rationalisierung lässt er es erst gar nicht zum Schmerz über die Zurückweisung kommen, sondern sagt sich, er könne sich glücklich schätzen, nach langer Zeit in einer Beziehung nun endlich mal wieder Single zu sein und seine Freiheit genießen zu dürfen. Wie auch das dritte und letzte Beispiel zeigen wird, handelt es sich bei Rationalisierung immer auch um eine Rechtfertigung vor sich selbst und/oder anderen: Eine Mutter drängt ihre Tochter, die eigentlich Realschülerin ist, zum Absolvieren des Abiturs. Ihr wirkliches Motiv liegt darin, dass es ihr innerhalb ihres sozialen Kreises peinlich wäre, wenn ihre Tochter „nur“ einen Realschulabschluss hätte – um diese unschöne Einstellung jedoch zu verschleiern, rationalisiert sie „Ich will ja nur, dass sie später noch bessere Chancen hat.“.

Wie Sie reifer reagieren können: Mit der Rationalisierung schaffen wir vermeintliche Fakten im Außen, die uns vom Fühlen oder von der Übernahme von Verantwortung abhalten sollen. Zu den genannten Beispielen würde die Argumentation so lauten: „Der Klassenkamerad hat genügend Stifte, deshalb trifft mich keine Schuld.“ oder „Singlesein wird in unserer Gesellschaft mit Spaß gleichgesetzt, deshalb muss ich keine Trauer fühlen.“. Wir können jedoch unseren Part in solchen Situationen betrachten, indem wir uns fragen „Wie geht es mir dabei emotional?“ und „Wie kann ich hier Verantwortung übernehmen, wenn ich der Versuchung widerstehe, Gründe im Außen zu finden?“. Auch ein ehrliches Gespräch mit einem guten Freund kann dabei sehr hilfreich sein. Fragen Sie Ihr Gegenüber, wie es die Situation einschätzt und was es Ihnen raten würde. Manchmal brauchen wir den äußeren Blick, um zu erkennen, wie es uns wirklich geht (zum Beispiel, dass wir starken Liebeskummer überspielen).

Projektion

Bei diesem häufigen Abwehrmechanismus übertragen bzw. „projizieren“ wir eigene „verbotene“ Triebe, Denk- oder Verhaltensweisen auf andere Personen. Ein bekanntes Beispiel dafür ist der homophobe Mann aus dem Film „American Beauty“, der sich seiner eigenen Homosexualität nicht bewusst ist, sie um jeden Preis verdrängen will – und als Überkompensation in anderen Männern homosexuelle Neigungen sieht, welche er aufs Schärfste verurteilt. Ein weiteres Beispiel: Eine Frau fühlt sich einsam und hat nur wenige Freundinnen. Als eine Bekannte sie enttäuscht, reagiert sie zickig und wirft dieser vor, mit ihrem Verhalten sei es kein Wunder, dass sie kaum Freundschaften habe. So leitet sie die eigene unbewusste Angst, nicht liebenswert zu sein, auf eine andere Person um. 

Wie Sie reifer reagieren können: Der Schlüssel bei der Projektion liegt eindeutig in Großzügigkeit, Toleranz und Empathie gegenüber sich selbst. Immer wenn Sie sich bei jemand anders stark über etwas aufregen, könnte es sein, dass Sie eigene Anteile auf ihn projizieren, die Ihnen Angst machen oder die Sie sich nicht erlauben – und bei denen Sie entsprechend andere insgeheim beneiden, die das leben, was Sie sich im Verborgenen wünschen. Wenn Sie sich also über eine andere Person entrüsten, fragen Sie sich: „Warum triggert mich das so sehr – was hat das mit mir zu tun?“ und „Mit welchem Anteil in mir kann ich mich versöhnen, statt ihn zu bekämpfen?“ (mehr zu inneren Schattenanteilen erfahren Sie in diesem Artikel).

Sublimierung

Eindeutig einer der reifsten Abwehrmechanismen, geht es bei der Sublimierung darum, moralisch verwerfliche Triebe in gesellschaftlich akzeptierter oder sogar hochanerkannter Weise auszuleben. Der Begriff impliziert, dass „niedere“ Impulse auf eine höhere, oft geistige Ebene gehoben werden. Beispiel: Eine zu Aggressionen neigende Person nutzt diese Tendenz auf sinnvolle, unschädliche Weise, indem sie sich im Beruf wettbewerbsorientiert zeigt oder in ihrer Freizeit Kampfsport ausübt. Weiteres Beispiel: Eine übermäßige sexuelle Neigung, die quasi dem starken Trieb nach „Zeugung“ entspringt, kann durch Sublimierung in künstlerischer Form ausgelebt werden – durch das Erschaffen von Literatur, Musik oder Malerei (und potenziell dem gesellschaftlich anerkannten Verarbeiten von Sexualität in diesen Werken).

Wie Sie reifer reagieren können: Im Grunde ist Sublimierung bereits eine positive Reaktion auf (zu) starke Triebimpulse, die bei ungezügeltem Ausleben soziale Probleme oder Ausgrenzung nach sich ziehen könnten. Hier ist deshalb aus anderem Grund Vorsicht geboten: Wer es mit der Sublimierung übertreibt und sämtliche Triebe unterdrückt, schneidet sich von der eigenen körperlichen Energie ab und riskiert, nur noch im Kopf und auf geistiger Ebene zu leben. Es ist wichtig, dass Sie sich – natürlich in einem Rahmen, in dem niemand zu Schaden kommt – erlauben, Ihre Triebe auch mal auf physische Weise auszuleben. So geschieht das bei Kindern zum Beispiel mit spielerischem Rangeln zur Aggressionsbewältigung, und als Erwachsener ist ein erfülltes Sexualleben für die meisten Menschen ein wichtiger Faktor für die psychische Gesundheit. 

Verschiebung

Hiebei übertragen wir Impulse oder negative Gefühle gegenüber einem Menschen oder einer Situation auf eine (meist weniger bedrohlich wirkende) andere Person, Sache, o. ä. Beispiel: Eine Jugendliche wird im Unterricht harsch von ihrer Lehrerin getadelt. Weil sie der Autoritätsperson gegenüber ihre Frustration nicht ausdrücken kann, baut sie ihren Stress ab, indem sie zuhause ihren kleinen Bruder anbrüllt. Ein weiteres Beispiel: Jemand ist extrem wütend, weil ein ihm nahestehender Mensch überfallen wurde. Da er sich an dem unbekannten Täter nicht „rächen“ kann, entlädt er seine Aggression, indem er auf ein Kissen einprügelt.

Wie Sie reifer reagieren können: In den wenigen Fällen, in denen bei der Verschiebung tatsächlich niemand zu Schaden kommt (Beispiel aufs Kissen einschlagen), ist dieser Abwehrmechanismus vielleicht noch akzeptabel. Meist bekommen dabei jedoch „unschuldige“ Personen oder Tiere die negativen Gefühle ab, was unfair und unbedingt zu vermeiden ist! Gerade wenn Kinder oder Haustiere Opfer der Verschiebung sind, können schwere Traumata entstehen, da sie überhaupt nicht begreifen, warum sie verbal oder physisch attackiert wurden. Achten Sie also darauf, Ihre negativen Empfindungen anderweitig abzubauen (Sport, Atemübungen, Meditation) und – wenn möglich – drücken Sie Ihren Unmut auf konstruktive Weise gegenüber den Menschen aus, die ihn in Ihnen verursacht haben. 

Verdrängung

Bei der Verdrängung möchte sich unsere Psyche vor einer Bedrohung ihrer Integrität schützen – beispielsweise vor inneren Trieben oder Erlebnissen, die unserem idealen Selbstbild zuwiderlaufen. Diese Impulse oder Erinnerungen werden dann – ohne dass wir das aktiv mitbekommen – in unser Unbewusstes verdrängt, äußern sich aber weiterhin auf indirekte, diffuse Weise. Beispiel: Ein Mann ist heimlich in die Freundin seines besten Freundes verliebt. Da er absolut loyal gegenüber seinem Freund ist, verdrängt seine Psyche die Gefühle zu der Frau, sodass der Mann sie selbst nicht mehr wahrnimmt. Sie kommen jedoch in sich wiederholenden Träumen zum Vorschein, in denen die Frau mit ihm zusammen ist. Oder: Eine Frau, die sich selbst stets sehr kontrolliert und um Zurückhaltung bemüht ist, schlägt bei einer Feier über die Stränge, sodass ein paar Gäste im Nachhinein ihr Verhalten negativ kommentieren. Der Frau ist diese Abweichung von ihrem Ich-Ideal so peinlich, dass sie diese Begebenheit verdrängt – und sich schon ein paar Wochen später kaum noch an den Abend erinnert. Nur manchmal hat sie ein nicht greifbares ungutes Gefühl, wenn sie an die Gastgeber der Feier denkt.

Wie Sie reifer reagieren können: Da die Verdrängung komplett ohne die Beteiligung unseres Bewusstseins stattfindet, ist ihr gar nicht so einfach auf die Schliche zu kommen. Was auf Verdrängtes hindeutet, sind jedoch immer seltsame wiederkehrende „Erscheinungen“: ein mulmiges Gefühl, ein bestimmter Traum, eine Ersatzhandlung oder Fehlleistung. Eine Ersatzhandlung wäre im obigen Beispiel, wenn der unglücklich verliebte Mann seinem Freund immer wieder gratuliert, was für eine tolle Frau er habe, statt gegenüber der Frau selbst seine Zuneigung zu bekunden. Eine Fehlleistung ist beispielsweise ein „Freudscher Versprecher“: Unsere verdrängte Meinung kommt zum Vorschein, indem wir aus Versehen das sagen, was wir in Wirklichkeit unter der perfekten Fassade denken. Gegen Verdrängung hilft ritualisierte Ehrlichkeit gegenüber sich selbst: Gewöhnen Sie sich an, täglich in sich hineinzufühlen und sich zu fragen: „Wie geht es mir wirklich? Warum?“ Schauen Sie vor allem bei diffusen, seltsamen Empfindungen genauer hin. 

Verleugnung

Oft mit Verdrängung verwechselt, besteht bei Verleugnung jedoch folgender Unterschied: Während bei der Verdrängung ein innerer Impuls abgewehrt wird, besteht das Verleugnen im Nicht-Anerkennen eines unerwünschten Teils der Realität im Außen. Beispiel: Jemand hat ein Problem mit Glücksspielsucht, verbringt extrem viel Zeit im Casino und hat bereits beachtliche Schulden. Wenn er von seiner Familie konfrontiert wird, ist er jedoch überzeugt, die Lage im Griff zu haben und das Spielen lediglich als angenehmes, unproblematisches Hobby zu betreiben. Ein weiteres Beispiel: Eine ältere Frau wird plötzlich Witwe, verleugnet jedoch die Tatsache, dass ihr Mann nicht mehr lebt. Als ein Bekannter von früher anruft und ihren Mann sprechen möchte, sagt sie ihm, ihr Mann sei gerade mit dem Hund draußen und deshalb nicht erreichbar. Und noch ein drittes Beispiel: Eine Person spürt seit Monaten Schmerzen im Brustbereich, vermeidet es aber, zum Arzt zu gehen – nach dem Motto „Wenn nichts diagnostiziert wird, habe ich auch nichts!“.

Wie Sie reifer reagieren können: Verleugnung zählt definitiv zu den unreifen Abwehrmechanismen, die sehr problematisch werden können. Da Betroffene die Realität dabei tatsächlich anders wahrnehmen, als sie ist, können sie selbst es kaum schaffen, ihr Leugnen zu enttarnen. Weist man sie darauf hin, wie die Situation wirklich ist, können sie – aus Selbstschutz vor dem Schmerz, den die Wahrheit mit sich brächte – sehr stur auf ihrer Sichtweise beharren oder wütend werden. In extrem Fällen von Verleugnung bei Personen in Ihrem Umfeld sollten Sie am besten Rat bei einem Psychotherapeuten oder – je nach Thema – bei einer (Sucht-)Beratungsstelle suchen.

 

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Identifikation

Im Sinne eines Abwehrmechanismus bedeutet Identifikation, dass wir uns ängstigende oder bedrohliche äußere Einflusse in unsere Ich-Struktur aufnehmen, sodass wir sie nicht mehr als gefährlich wahrnehmen müssen. Dabei können Werte, Normen, Ideen oder bestimmtes Verhalten übernommen werden. Beispiel: Ein Jugendlicher fürchtet sich vor einer Clique aggressiv auftretender Jungs. Seine Angst wandelt sich dann in Identifikation um, indem er das Auftreten der Clique nachahmt (z. B. Art zu sprechen und Kleidungsstil), plötzlich das „cool“ findet, wofür diese Gruppe steht, und sich ihr anschließt. Ein weiteres Beispiel: Eine Frau wird regelmäßig von ihrem Chef gedemütigt, manchmal sogar cholerisch niedergebrüllt. Um diese Situation zu ertragen, übernimmt sie die Einstellung, sie verdiene es und es sei in Ordnung, dass Männer Frauen auf diese Weise „zurechtweisen“ (Identifikation mit Einstellung und Verhalten des Aggressors).

Wie Sie reifer reagieren können: Da Identifikation oft im Zusammenhang mit dem Erleben von Angst auftritt, scheint sie zunächst eine adäquate Lösung zu sein. Doch dabei verraten wir meist unsere eigenen Werte und gehen über unsere Wünsche und Bedürfnisse hinweg! Will der Jugendliche wirklich Teil einer aggressiven Gang sein? Findet die Frau es wirklich in Ordnung, sich erniedrigen zu lassen? Wichtig ist in solchen Angstsituationen, es sich selbst wert zu sein, sich nicht im Angesicht einer Bedrohung zu verbiegen und anzupassen. Neinsagen und Abgrenzung üben, den eigenen Selbstwert stärken (siehe dazu diesen Artikel) und sich im Zweifel Hilfe von außen suchen sind weitaus bessere Lösungen, als sich mit „Tätern“ zu identifizieren.

Somatisierung und Konversion

Diese beiden Abwehrmechanismen beziehen sich schließlich auf das Umwandeln von psychischem Stress in körperliche Symptome, welches weit verbreitet ist. Somatisierung bedeutet dabei, dass sich eine mentale Belastung anhand unspezifischer körperlicher Schmerzen, z. B. im Rücken, ausdrückt. Beispiel: Eine junge Frau bekommt jedes Mal, wenn ein Vortrag in ihrem Seminar ansteht, vor Stress ganz viele Pickel im Gesicht. Konversion ist so zu verstehen, dass über den körperlichen Ausdruck hinaus dieser auch noch in einem symbolischen Zusammenhang mit dem Problemthema steht. Beispiel: Ein Mensch entwickelt eine solche Aversion gegenüber Schule oder Job, dass seine Beine gelähmt werden, ohne erkennbare körperliche Ursache. So kann er wortwörtlich nicht mehr dorthin „gehen“.

Wie Sie reifer reagieren können: Während Extremfälle wie das Beispiel der Lähmung nicht so einfach zu behandeln sind, kennen die meisten Menschen leichtere Formen von Somatisierung und Konversion. Kopfweh, Magen-Darm-Probleme, Herzrhythmusstörungen, Erröten oder Verspannungen sind typische Symptome unserer Verarbeitung von Stress und Ängsten. Meist sind diese körperlichen Reaktionen nicht steuerbar, wohl aber können wir uns mit deren Auslöser befassen und – im Rahmen einer Psychotherapie, Hypnose, mit Selbsthilfebüchern oder Achtsamkeitsübungen – daran arbeiten, von vornherein weniger Sorgen, Furcht und Anspannung zu empfinden. Nehmen Sie wiederkehrende körperliche Signale in jedem Fall ernst, lassen Sie sie ärztlich abklären – und erforschen Sie bei nicht erkennbaren physischen Ursachen, aus welcher mentalen Stressquelle sie herrühren könnten.

Affektisolierung

Dabei wird ein unerwünschtes Gefühl (Affekt) von einer bestimmten Situation entkoppelt, sodass die Person dieses gar nicht mehr wahrnimmt. Beispiel: Ein Mann verliert durch Kündigung seinen Job, den er immer sehr gerne ausgeübt hat. Als er seiner Familie abends davon berichtet, nennt er nur auf nüchterne Art die Fakten und Rahmenbedingungen – ohne jeglichen emotionalen Ausdruck der Enttäuschung, Trauer oder Wut. Ein zweites Beispiel: Das geliebte Kaninchen eines kleinen Mädchens stirbt. Zum Erstaunen ihrer Eltern zeigt sie jedoch gar keine Traurigkeit, sondern bespricht nur auf rationale Art, dass sie es im Garten beerdigen möchte. Die emotionale Ebene scheint komplett abgekoppelt.

Wie Sie reifer reagieren können: Gerade bei einschneidenden oder traumatischen Lebensereignissen ist der Abwehrmechanismus der Affektisolierung zunächst einmal sehr hilfreich – weil uns die geballte Ladung negativer Gefühle in manchen Fällen sprichwörtlich den Boden unter den Füßen wegziehen würde. Es ist dabei nur wichtig, gut in sich hineinzuhören und Emotionen, die irgendwann doch unweigerlich aufkommen, dann nicht zu unterdrücken. Um solche Erlebnisse zu verarbeiten, müssen sie nämlich – im passenden zeitlichen und räumlichen Rahmen – zugelassen und verarbeitet werden. 

Kompensation

Bei diesem Abwehrmechanismus gleichen wir eine von uns selbst oder anderen wahrgenommene Schwäche durch Überbetonung einer Stärke von uns aus. Sie kann auch ganz allgemein als Prozess verstanden werden, der psychisches Ungleichgewicht ausgleicht. Beispiel: Ein Kreativer in einer Werbeagentur schämt sich insgeheim, weil er im Umgang mit Grafikprogrammen im Vergleich zu seinem Team wesentlich unsicherer ist. Unbewusst betont er deshalb immer, dass es für die Qualität eines Projekts vor allem auf geniale Ideen ankäme – die Umsetzung sei dann nur zweitrangig. Noch ein simples Alltagsbeispiel, was sicher jeder kennt: Jemand hatte einen stressigen Arbeitstag und die eigene Präsentation ist nicht geglückt. Um die dadurch entstandene negative Stimmung zu kompensieren, gönnt die Person sich abends ein schönes Bad, eine Pizza ihres Lieblingsitalieners oder kauft sich etwas, was sie sich schon lange gewünscht hat.

Wie Sie reifer reagieren können: Im Grunde ist Kompensation ein weit verbreiteter und oft sinnvoller Abwehrmechanismus. So kann beispielsweise auch erholsamer Urlaub als Kompensation für den anstrengenderen Arbeitsalltag betrachtet werden – ein völlig „normaler“ Prozess. Wichtig ist dabei nur das Gleichgewicht zu wahren: Wer immer bloß eine Schwäche oder ein Problemthema mit etwas anderem kompensiert, löst nicht das eigentliche Problem. Um auf die oben genannten Beispiele einzugehen: Der Agenturmitarbeiter sollte trotz Ideenstärke daran arbeiten, seine technischen Fähigkeiten auszubauen, und wer immer wieder extrem von seinem Job gestresst ist, sollte die Gründe analysieren und Lösungen finden, statt sich lediglich mit Angenehmem abzulenken. 

Idealisierung

Mit dem ebenfalls weitverbreiteten Abwehrmechanismus der Idealisierung versuchen wir, die positiven Seiten an einem Menschen, einer Sache oder einer Situation überzubetonen und die negativen Aspekte auszublenden. Das geschieht oft dann, wenn das Erkennen der negativen Punkte ein Handeln nötig machen würde, zu dem wir nicht bereit sind. Beispiel: Eine Frau muss in ihrem neuen Job extrem viele Überstunden machen und wirkt zunehmend ausgebrannt. Als ihre Freunde sie darauf ansprechen, meint sie nur, das sei nicht so schlimm, weil alles andere an dem Job perfekt sei (die Kollegen, die Inhalte, der Chef usw.). Auch bekannt: Obwohl eine Beziehung schon lange nicht mehr das Gelbe vom Ei ist, idealisieren wir unseren Partner, weil wir uns sonst eingestehen müssten, dass es vielleicht nicht auf Dauer funktioniert.

Wie Sie reifer reagieren können: Oft fällt uns schwer zu erkennen, dass wir jemanden oder etwas idealisieren – legen wir es uns in unserem Kopf doch so zurecht, dass es „logisch“ und real wirkt. Hier hilft tatsächlich das Feedback enger Vertrauter, die uns spiegeln, dass etwas nicht in Ordnung ist, oder uns zum Hinterfragen anregen, ob wir wirklich so glücklich mit der Situation sind. 

Abwertung

Hierbei handelt es sich um das Gegenteil der Idealisierung: Statt unseren Fokus nur auf das Positive zu legen, finden wir dabei all das, was schlecht an etwas oder jemandem ist. Auch hier ist wie bei allen Abwehrmechanismen das Ziel, unangenehme innere Spannungen abzumildern oder unser (angegriffenes) Selbstwertgefühl zu schützen. Beispiel: Eine ehemalige Kommilitonin hat mit ihrem Startup Erfolg. Aus heimlichem Neid picken wir uns nur – in unseren Augen – negative Aspekte daran heraus und werten ihre Leistung ab: „Okay, aber der Firmenname ist schon albern. Und der Internetauftritt könnte direkt aus den 90ern kommen.“. Weiteres Beispiel: Eine Frau, die seit der Geburt ihres ersten Kindes nicht mehr berufstätig ist, sondern die Kinder betreut und sich um den Haushalt kümmert, regt sich über arbeitende Mütter auf und findet, diese vernachlässigen ihre Kinder und seien egoistisch. Dabei erkennt sie nicht, dass ein Teil in ihr die noch berufstätigen Frauen vielleicht beneidet. 

Wie Sie reifer reagieren können: Andere abzuwerten, schlechtzureden oder über sie zu lästern, ist ein sehr negatives Verhalten und ein unreifer Abwehrmechanismus. Sie können dieses Verhalten reduzieren, indem Sie tief in sich hineinhören in Momenten, in denen jemand anders Sie triggert und Sie schon negative Gedanken über ihn im Kopf haben. Woran kann es liegen, dass Ihre Reaktion auf die Person so intensiv ist? Was uns besonders aufregt, hat nämlich meistens etwas mit nicht gelebten eigenen Anteilen zu tun, die wir in unseren „Schatten“ verschoben haben (mehr zu dieser Theorie lesen Sie hier). Fragen Sie sich auch: Was finde ich in Wirklichkeit toll an diesem Menschen oder dieser Sache – traue mich aber nicht, es selbst zu leben? Wovon hätte ich eigentlich auch gerne eine Portion?

Reaktionsbildung

Bei diesem interessanten Mechanismus wehren wir gewisse Impulse aus unserem Unbewussten ab, indem wir diametral entgegengesetzte Verhaltensweisen entwickeln. Beispiel: Eine Frau mag ihre Arbeitskollegin in Wirklichkeit nicht, reagiert darauf aber damit, dass sie besonders nett zu ihr ist und sie bevorzugt – denn eine offene Ablehnung käme aufgrund der engen Teamstruktur nicht infrage. Das zugrundeliegende Motto könnte lauten „Wenn du einen Feind nicht besiegen kannst, dann mache ihn dir zum Freund.“ Weiteres Beispiel: Ein Jugendlicher ist in einen Mitschüler verliebt, will sich diese Gefühle aber nicht eingestehen. Deshalb ärgert und neckt er ihn bei jeder Gelegenheit oder ignoriert ihn manchmal komplett, als sei er ihm egal.

Wie Sie reifer reagieren können: Diesem Abwehrmechanismus kommen Sie oft nur schwer auf die Schliche. Ein Indiz dafür, dass Reaktionsbildung zugrundeliegt: Vielleicht kommt Ihnen Ihr Verhalten selbst komisch und wie fremdgesteuert vor, und Sie können es sich nicht so recht erklären. Auch hier kann das Feedback von anderen Personen Sie darauf aufmerksam machen, dass Sie Ihre wahren Motive hinterfragen sollten.

Intellektualisierung

Durch Einnehmen einer theoretischen, abstrakten „Forscherperspektive“ distanzieren sich Menschen bei diesem Abwehrmechanismus von ihrer Gefühlswelt und/oder von realen Situationen. Beispiel: Eine Frau möchte sich mit ihrem Partner über konkrete Konflikte in der Beziehung austauschen. Statt auf das eigentliche Thema einzugehen, reagiert der Partner mit komplexen Theorien über „die Liebe im Allgemeinen“, sodass keine praktische Lösung gefunden werden kann. Zudem kommt sich die Frau eher vor wie in einer Vorlesung, weil ihr Partner das Thema scheinbar emotionslos seziert. Noch ein Beispiel einer Sonderform der Intellektualisierung: Statt sich damit auseinanderzusetzen, wie ein Mann die angespannte Beziehung zu seinem Arbeitskollegen konstruktiver gestalten kann, hebt er den Konflikt auf eine psychologische Ebene und attestiert dem Kollegen eine narzisstische Persönlichkeitsstörung. Diese Form nennt man „Pathologisieren“, also als Krankheitsbild darstellen.

Wie Sie reifer reagieren können: Intellektualisierung kommt häufig bei Menschen vor, die von Natur aus eine gewisse wissenschaftlich-philosophische Ader haben und oft und gerne über die möglichen Gründe für menschliches Verhalten nachdenken. Insofern sind die Grenzen zwischen theoretischer Einordnung eines Themas aus reinem Interesse und Abspaltung der eigenen Gefühle durch intellektuelle Betrachtung fließend. Erinnern Sie sich regelmäßig daran, dass Sie sich auch den an menschlichen Beziehungen beteiligten Emotionen widmen müssen, wenn Sie sich weiterentwickeln möchten, und dass nicht immer alles auf wissenschaftliche Weise eingeordnet und gelabelt werden muss.

Fazit

Abwehrmechanismen zu nutzen, ist allen Menschen gemein. Gerade wenn wir dies bei anderen miterleben, können sie jedoch irritierend bis frustrierend anmuten. Machen Sie sich klar: Diese hilflosen, unbewussten Versuche eines Menschen, psychische Stressoren zu kompensieren, sollten eher als Hilferuf interpretiert werden. Die Person ist aus bestimmten Gründen nicht in der Lage, sich ehrlich und mutig intrapsychischen oder externen Konflikten und Komplexen zu stellen – und muss sich deshalb Abwehrmechanismen bedienen. Mit diesem Bewusstsein reagieren Sie vielleicht milder auf ihr Verhalten, können Ihren Fokus auf die Wurzel des Problems richten und bei seiner Lösung ggf. Hilfestellung leisten. Das gilt übrigens auch für Sie selbst, wenn Sie eigene Abwehrmechanismen an sich bemerken oder andere Sie darauf hinweisen: Trauen Sie sich, dem Phänomen auf den Grund zu gehen und sich mit liebevollem und akzeptierendem Blick dem eigentlichen Problem zu stellen. Fragen Sie sich, welches eigentliche Bedürfnis sich auf diese Weise äußert und dann arbeiten Sie daran, es zu erfüllen. Sie können dabei nur wachsen.

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