#Persönlichkeitsentwicklung

Bis hierhin und nicht weiter: Innere Bedürfnisse erkennen und Grenzen setzen

Bis hierhin und nicht weiter: Innere Bedürfnisse erkennen und Grenzen setzen

Team

Dieser Artikel beschäftigt sich mit der Frage, wie wir in Kontakt mit unseren Bedürfnissen treten können, um uns von überfordernden Anforderungen im Außen abzugrenzen. Wenn wir nach außen ein „Nein“ kommunizieren, sprechen wir uns selbst gegenüber ein „Ja“ aus, indem wir uns vor Vereinnahmung und Überlastung schützen. Wer sich seiner eigenen Bedürfnisse bewusst ist, kann gezielt Prioritäten setzen und Expert*in im Neinsagen werden. 

Wo beginne ich und hört damit jeder andere auf? Die feine Grenze zwischen unseren Bedürfnissen und dem Anliegen anderen zu gefallen

Wer kennt ihn nicht, den Wunsch nach Zugehörigkeit: anderen einen Gefallen zu tun, um beliebt zu sein, „ja“ zu sagen, während wir „nein“ meinen, um nicht anzuecken und die Harmonie zu bewahren. Etwas abzulehnen, ohne das Gegenüber zu verletzen bei gleichzeitiger klarer Abgrenzung, ist gar nicht so einfach. Wie können wir freundlich, aber bestimmt kommunizieren, was wir möchten und was nicht? 

Klar in der Sache, freundlich mit der Person

„Grenz dich ab!” oder „Sag doch einfach ‚nein’!” sind typische und leicht gesagte Ratschläge von Freund*innen und Familie. Das fällt manchen Persönlichkeiten leichter als anderen – einige trainieren es schon ihr Leben lang.

„Nein” ist eines der ersten Wörter, die wir als Kleinkind von unseren Eltern hören und verstehen. In unseren ersten Lebensjahren lernen wir, über Sprache einen Ich-Ausdruck zu entwickeln. Eine der wichtigsten Übungen dabei ist, mithilfe des Wortes „Nein zu signalisieren, dass eine Grenzüberschreitung stattgefunden hat. Abgrenzung ist ein wichtiger Teil der eigenen Autonomieentwicklung.

Das Gefühl von Grenzüberschreitung ist subjektiv, da es von unseren Werten, Erfahrungen und unserem Ich-Konzept abhängt. Deswegen muss jede*r Einzelne seine*ihre Grenzen für sich definieren und Verantwortung für deren Einhaltung übernehmen. Dafür ist es in erster Linie wichtig, seine eigenen Bedürfnisse, Werte und Prioritäten zu spüren, ernst zu nehmen und als schutzwürdig anzuerkennen.

Als ob ich nicht weiß, was ich will! Die Suche nach dem eigenen Bedürfnis

Es gibt unterschiedliche Theorien darüber, was menschliche Bedürfnisse ausmacht. Friedemann Schulz von Thun formuliert vier zentrale Bedürfnisse: wertvoll, geliebt, frei und verbunden zu sein. Der amerikanische Psychologe Abraham Maslow erstellte eine Bedürfnispyramide, die ein schrittweises Erklimmen höherer Stufen vorsieht, sobald die Bedürfnisse einer Ebene erfüllt sind. Die fünf wichtigsten Bedürfnisse und Motivationen des Menschen sind nach Maslow vereinfacht geschildert: 

  1. Physiologische Grundbedürfnisse (z. B. Essen, Trinken, Schlafen)
  2. Sicherheit (materielle und berufliche Sicherheit wie z. B. Wohnen und Arbeit, Einkommen)
  3. Sozialbedürfnis (z. B. Zugehörigkeit, Liebe, Freundschaft)
  4. Anerkennung und Wertschätzung 
  5. Selbstverwirklichung

Kompliziert macht es, dass die Intensität dieser Bedürfnisse je nach unserer momentanen Lebenssituation und Verfassung schwankt. Das bedeutet, um herauszufinden, was unser momentanes Bedürfnis ist, müssen wir aktiv in uns hineinhören. Doch wie können wir uns hierbei von den Anforderungen und Erwartungen unseres Umfelds freimachen? Besonders empathische und sensible Menschen haben es bei diesem Unterfangen schwer. Sie spüren häufig die Bedürfnisse anderer Menschen sehr viel intensiver als die eigenen. Die Folge davon ist, dass sie sich kaum bis gar nicht von den Gefühlen oder Bedürfnissen anderer abgrenzen können. 

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Sind das überhaupt meine Gefühle? Worauf besonders sensible Menschen achten können

Die Psychologin und Psychotherapeutin Sylvia Harke hat das selbst erlebt und berät heute Menschen, die lernen möchten sich abzugrenzen. Sie sagt, dass im Falle besonders sensibler Kinder frühe Erfahrungen von Überforderung der eigenen Eltern, emotionaler Missbrauch, Stress und familiäre Traumata dazu führen, dass sie die Befindlichkeiten ihres Umfeldes intensiver wahrnehmen als sich selbst. Darüber hinaus lernen sie, durch sozial angepasstes Verhalten die negativen Stimmungen anderer Menschen positiv auszugleichen. So entsteht bei sehr sensiblen Kindern und später Erwachsenen das Gefühl, das eigene Überleben hinge davon ab, anderen zu helfen oder sich vor ihnen schützen zu müssen. Dadurch tritt die Eigenwahrnehmung zu stark in den Hintergrund. Diese als Kind entwickelte Ausrichtung bewirkt, dass der ganze Fokus der Aufmerksamkeit nun beim Gegenüber liegt.

Auch weniger sensible Menschen machen ähnliche Erfahrungen in ihrer Kindheit. Misslingende Abgrenzung ist dann häufig auf Selbstwertprobleme, Konfliktscheue und übermäßig ausgeprägte Kompromissbereitschaft in Beziehungen zurückzuführen. Auch Glaubenssätze wie z. B. „Anerkennung bekomme ich nur durch Leistung” oder „Ich bin liebenswert, wenn ich brav bin und meine Bedürfnisse zurückhalte” spielen eine große Rolle. Wer es nicht schafft sich abzugrenzen, erlebt häufig Schuldgefühle, Selbstzweifel und kreisende Gedanken. Man wird das Gefühl nicht los, dass man  „besser“ hätte handeln können, etwas anders ausdrücken müssen und dass man selbst etwas falsch gemacht hat. 

Schluss mit lustig: Mit diesen Tricks gelingt eine erste Abgrenzung!

Abgrenzung bedeutet, das eigene Selbstwertgefühl nicht davon abhängig zu machen anderen zu gefallen, indem man zu jeder Forderung „ja“ sagt. Die folgenden Schritte sollen Ihnen in Situationen helfen, in denen Sie eine Grenzüberschreitung innerlich in Form von Unruhe, Herzrasen oder einer zugeschnürten Kehle verspüren:

  • Zentrieren Sie sich, indem Sie sich auf Ihre eigene Atmung konzentrieren, verbinden Sie sich mit Ihrem Körper, indem Sie bewusst tief ein- und ausatmen. Diese leichte Übung beruhigt erst einmal physisch und wirkt somit auch mental entspannend. Dabei werden die Wogen in Ihnen geglättet, sodass Sie auf den Grund blicken und Kontakt zu Ihren Gefühlen und Bedürfnissen aufnehmen können. 
  • Wiederholen Sie innerlich Mantren wie „Ich bin ganz bei mir” oder „Ich bin für mich selbst verantwortlich”.
  • Grenzen Sie sich sowohl räumlich als auch zeitlich ab: Bitten Sie Ihr Gegenüber um Bedenkzeit und verschaffen Sie sich somit die Gelegenheit, sich zurückzuziehen, innezuhalten und sich in Ruhe über Ihre Bedürfnisse und Interessen bewusst zu werden. Melden Sie sich anschließend mit einer klaren Antwort bei Ihrem Gegenüber zurück. Beispiele: „Gerade ist nicht der richtige Zeitpunkt, lass uns später darüber sprechen.”, „Lass mich mal darüber nachdenken, ich sage dir morgen Bescheid.”, „Das würde ich vorher gerne mit meinem*r Partner*in besprechen.” oder „Lass mich dazu kurz ein Telefonat tätigen, ich muss vorab etwas abklären.”

Eine Ode an die Selbstliebe

Selbstliebe ist der beste Schutz und die beste Voraussetzung, um Abgrenzung langfristig und nachhaltig möglich zu machen. Sylvia Harke empfiehlt: „Wenn Du lernst, Dich selbst zu lieben, zu respektieren und wertzuschätzen, werden sich viele Abgrenzungsprobleme wie von allein lösen. Denn Du bist der wichtigste Mensch in Deinem Leben. Dein Wert hängt nicht davon ab, ob Du anderen behilflich bist. Du musst auch nicht als Energie-Tankstelle dienen. Je klarer Du das erkennst, umso leichter gelingt Abgrenzung.” Ziel ist es, sich selbst zu lieben, ohne egoistisch zu sein. 

„Fange zu tun an, dann hast du auch die Kraft dazu.“ 
Ralph Waldo Emerson, US-amerikanischer Philosoph (1803-1882)

Der Schlüssel zu einem kraftvollen und gleichzeitig mühelosen „Nein“ liegt darin, „ja“ zu sich selbst zu sagen und das zu beschützen, was einem wichtig ist. Es geht darum, Respekt vor sich selbst zu zeigen. Daher gilt es, sich zu fragen: 

  • Wer bin ich? Was will ich? Wer und was tut mir gut? Was sind meine Werte?
  • Was versuche ich durch klare Grenzsetzungen zu erreichen, zu schützen, zu verändern? 

Tipp: Als stärkendes Ritual empfehlen wir, regelmäßig Tagebuch zu schreiben. Beim Tagebuchschreiben begeben wir uns in den inneren Dialog. Dabei schenken wir unserer inneren Stimme Gehör und üben, ihr Bedeutung beizumessen. Während des Aufschreibens der inneren Stimme können wir unsere Vergangenheit reflektieren und unsere Zukunft manifestieren. Dabei begegnen wir unseren Gefühlen, Gedanken, Sorgen und Wünschen sowie unseren Bedürfnissen, Werten und Prioritäten. Indem wir uns die eigenen tiefen Gefühle bewusst machen, übernehmen wir die Kontrolle, bevor sie uns überrennen und uns fest im Griff haben. 

Die Übung könnte also lauten: Hören Sie Ihren Gefühlen gründlich zu, statt diese unreflektiert auszuleben. Das ermöglicht das Aufdecken der versteckten Nachricht, die hinter der erlebten Emotion liegt Daraus können Sie Ihre Bedürfnisse ableiten. Denn Emotionen sind so etwas wie das Sprachrohr unserer Bedürfnisse. 

„Weil ich es mir wert bin!”

Ein stabiler Selbstwert ist einer der wichtigsten Grundlagen für eine gesunde Abgrenzungsstrategie. Die drei Entwicklungsschritte dorthin basieren laut Sylvia Harke auf einem Starken Ich, Selbstliebe und der Fürsorge des Inneren Kindes

Das Starke Ich ist emotional autonom und unabhängig von der Meinung anderer. Es ist der so genannte reife Erwachsene in uns, der frei von negativen Glaubenssätzen ist. Das ‚Starke Ich‘ spürt die eigenen Grenzen und Bedürfnisse bewusst und besitzt Klarheit über die eigene Identität.

Selbstliebe als weitere Grundlage für einen stabilen Selbstwert bedeutet, sich selbst anzunehmen, den eigenen Wert zu erkennen, mit sich Mitgefühl zu zeigen und sich selbst zu vergeben. Selbstliebe heißt auch, es sich wert zu sein, für die eigenen Bedürfnisse einzustehen. Ganz nach dem Motto des berühmten Werbespruchs: „Weil ich es mir wert bin!”

Dabei hilft das Formulieren positiver Glaubenssätze wie beispielsweise:  

  • „Ich bin gut genug, um meine Bedürfnisse und Werte ernst zu nehmen.”
  • „Ich habe das Recht ‚nein‘ zu sagen.“
  • „Ich verdiene ausreichend Zeit für mich selbst.”
  • „Meine Bedürfnisse sind genauso wichtig wie die der anderen.”

Das Innere Kind symbolisiert die im Gehirn gespeicherten Gefühle, Erinnerungen und Erfahrungen unserer eigenen Kindheit. Dazu gehören intensive Gefühle wie Freude, Glück und Intuition, aber auch Schmerz, Angst und Wut. Es umfasst unser Sein, Fühlen und Erleben. Bei der therapeutischen Arbeit mit dem Inneren Kind geht es um die Unterscheidung zwischen dem beobachtenden, reflektierenden inneren Erwachsenen-Ich und dem erlebenden Inneren Kind. 

Als weiterer Schritt bei unserer Abgrenzungsübung ist es wichtig, dass das Innere Kind 

  • allein sein kann
  • sich liebenswert fühlt
  • in Verbindung mit sich ist
  • sich durch den inneren liebevollen Erwachsenen beschützt fühlt
  • sich bestärkt fühlt
  • im Kontakt mit den eigenen Instinkten steht
  • eine gute Körperwahrnehmung hat
  • nicht die Führung über das Erwachsenen-Ich übernimmt.

Die Entwicklungsschritte hin zu einem stabilen Selbstwert als eine Grundlage für eine gesunde Abgrenzung brauchen Zeit und Übung. Diese Übung ist eine stetige, die das Fundament für alle weiteren Entwicklungsstufen legt. Indem wir lernen, „ja“ zu uns und unseren Bedürfnissen zu sagen, üben wir innerliche Abgrenzung und kommunizieren diese anschließend, indem wir auf positive Weise „nein“ sagen!

Es lohnt sich, jeden Tag ein wenig Zeit mit sich selbst zu verbringen, um aus innerer Stärke heraus das Leben in Einklang mit dem eigenen Selbstverständnis und Selbstwert zu gestalten. 

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